Steiniges

Sein Gesicht war schon lange nur noch ein Stein. Das Relief uneben und die Konturen wurden immer unschärfer.
Ein Stein ohne Leben, dem kein Atemzug entflieht um ihr wenigstens noch einmal das Ge­fühl von Nähe und Dasein zu geben.
Wenn Marie heute zurückdenkt, scheint schon so vieles im Nebel zu liegen.
Vielleicht versucht man aus reinem Selbstschutz heraus, Steine wachsen zu lassen, in sich selbst oder um sich herum, um sich dem anzugleichen, was geschieht, ohne dass man es än­dern kann.
Manchmal erzählt Marie, dass sie sein Gesicht wie einen Stein vor sich sieht, den sie in der Hand hält..
Unwirklich von der Form , kalt aber mit warmen Schliff.
Er wiegt schwer in der Hand und ihre Finger versuchen das Relief zu erfassen um wenigs­tens noch die Konturen zu fühlen.
Aber je schwerer der Stein in der Hand liegt, desto weiter geht er von ihr fort.
Manchmal versucht sie diese Nebel zu lichten, um wenigstens noch seine Nähe zu spüren, von der am Ende nichts mehr übrig geblieben ist.
Und dann wünscht sie sich ein einziges mal in seinem Arm gehalten werden zu können, wie so oft damals und dann doch abnehmend, je stärker der Nebel hochstieg.
Irgendwann wollten sie mal tanzen, nur einen einzigen Tanz, dessen Ausklang sie nicht mit­bekamen. Nur ein einziges Mal im gleichen Takt, nach der gleichen Melodie, wo einer die Richtung vorgibt und der andere von ganz alleine ohne jeglichen Zwang folgt.
Doch die Musik begann nie zu spielen, weil sie auf die gewählte Distanz nicht zueinander fanden.
Ich bin mir sicher, sie wäre ihm gefolgt, hätte sich führen lassen, weil Emotionen sie gelenkt hätten. Aber vielleicht ging er da schon in eine andere Richtung, und hatte die Musik schon viel zu leise gedreht.
Und wieder fühlt Marie diesen Stein, der nicht duftet und der nicht spricht und der sie auch niemals hören wird, weil er stumm und taub ist ohne jegliches Gefühl in seiner ganzen Kon­sistenz.
Langsam wiegt er immer schwerer und ihre Fingerspitzen fühlen die rauen Stellen des Reli­efs.
Sie musste immer aufpassen, dass die Verletzungen nicht zu groß wurden. Blaue Flecken wa­ren zu verzeihen, aber nur wenn sie gepflegt und nicht noch mit dem Finger vertieft wurden.
Damals hatte sie vielleicht nicht den Mut ihm von diesen blauen Flecken zu erzählen, so wie
jetzt ihre Gedanken mit dem Stein zu fließen begannen.
Marie weiß, sie hätte es tun sollen, damals als schon sein Duft zu verfliegen begann. Viel­leicht hätte sie noch etwas davon einfangen können, was geblieben wäre, ohne dass die Nebel es überzogen hätten.
Vielleicht aber war auch ein wenig nur nie genug, dann, wenn das Gleichgewicht ver­schwimmt und auf der einen Seite im Nebel untergeht.
Ich bin mir sicher, Marie schwamm immer oben, selbst mit dem Stein noch in der Hand, der alles war, was noch übrig blieb.
Aber Nebel ist so gnadenlos, mit einer Konsequenz, die auch sein Leitbild war, für sich selbst ohne andere damit verletzen zu wollen.
Und er wollte Marie nie verletzen.
Es mag sein, dass die Gesamtheit des Vorangegangenen ihn schon lange vorher zu einem Stein hat werden lassen. Vielleicht war in seinem Inneren auch noch etwas Weiches, was nach außen hin immer härter wurde.
Nur hatte es Marie getroffen, weil sie nicht mithalten konnte um so die Schritte in einer Richtung auf Distanz zu halten, und sie konnte nicht durchdringen um so noch etwas von dem weichen Kern zu spüren.
In der Ferne hört sie seine Stimme, die schon immer sehr leise in den Tönen war.
Sie versucht die Frequenz zu halten um das Rauschen zu unterdrücken.
Viele Worte hallen nach, die sie mitnehmen wollte um sie richtig zu bedenken.
Nur dafür hatte sie so oft geschwiegen, um der Gedanken willen, denen nur sie selbst folgen konnte um ihm die Distanz zu gewähren, die für ihn Sicherheit bedeutete, dort im Inneren seines Steins.
Es waren ihre Gedanken, die sie ihm nicht geben konnte, weil seine Auffassung eine andere war und sie diese nicht konform hätten drehen können.
Wenn Marie heute diesen Stein in der Hand hält, frage sie sich oft, ob man wirklich den Ver­stand über das Gefühl siegen lassen soll, so wie er es konnte.
Aber war es wirklich so?
Wo hatte der Stein seine Emotionen versteckt?
Gab es wirklich eine andere Wertmäßigkeit oder war in Wahrheit gar nichts von diesen ihri­gen Werten vorhanden?
Nichts was man geben konnte ohne damit ein Nehmen zu verbinden?
Vielleicht konnte er einfach nichts geben, weil gar nichts da war, was ihr zuträglich gewesen wäre.
Eine kurze Zeit können Steine über Wasser springen, dann, wenn das Wasser an der Oberflä­che ruht. Aber dann ist es ihre Bestimmung in der Flut zu versinken um nie wieder dieser zu entsteigen. Und Marie hätte ihn gerne wieder nach oben geholt, wenn er es nur zugelassen hätte.
Aber nein, man kann keinen Menschen verändern, der sein Leben genau so lebt wie er es möchte.
Das war es auch nicht was sie wollte.
Für sie wäre es die Freiwilligkeit gewesen, die sie hätte annehmen können als Zeichen der Wertschätzung und Zuneigung ihrer Person. So wie sie auch für ihn der Flut entgegengelau­fen wäre.
Aber da waren nur Steine und Nebel der immer dichter wurde
Steine über die heute die Nebel ziehen und die immer schwerer in ihrer Hand wiegen ohne
dass sie diese wegzuwerfen vermag.
Und so hält sie ihn auch heute noch in ihren Gedanken fest und versucht die Nebel wegzuwi­schen um wenigstens heute seinen Atem an ihrem Hals ganz nah zu spüren, so wie es früher nie war.
Atem, der dann mit dem Nebel weiterzieht und in der Ferne sich in einem Nichts auflöst, so wie auch nie etwas Greifbares da war.
Etwas Greifbares, was sie sich immer gewünscht hätte, was sie bei sich halten hätte können für nichts und doch so viel.

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